Nachtgedanken 177

Zeitverfall: Wo alle Worte zu wenig wären, dort ist jedes Wort zu viel
Nachtgedanken vom 24.02.2020

Das Leben als letzte Gelegenheit

„Als der moderne Mensch die Bühne der Neuzeit betrat, tat er es mit großer Geste: erhobenen Hauptes, taten- und erkenntnisdurstig. Im Erwachen aus seiner vermodernen Existenz hatte ihm zu dämmern begonnen, wozu er fähig war: zur Umgestaltung der Welt nach seinen Plänen und nach seinem Willen.

Am Ende des Mittelalters, mit dem Niedergang der Ewigkeitshoffnung, wird das Leben als biologische Lebensspanne entdeckt. Das Leben wird buchstäblich zur einzigen und letzten Gelegenheit, zum Schauplatz der Anhäufung von Lebenskapital. Sicherheit und Beschleunigung werden zur vordringlichen Aufgabe der Weltverbesserung. Sicherheit, um dem Einzelleben wenigstens seine durchschnittliche Lebensspanne zu garantieren, und Beschleunigung, um die unerträgliche Kluft zwischen den unendlichen Möglichkeiten, die die Welt da draußen bereithält, und der kläglichen Zeit, die dem Einzelnen zu deren Ausschöpfung zur Verfügung steht, wenigstens zu verringern. Der Mensch gerät in Panik. Neben den Tod tritt ein beinah noch ärgerer Widersacher des Lebens: die Angst, etwas zu versäumen.“
(Marianne Gronemeyer in dem Buch: Das Leben als letzte Gelegenheit)