Kranke Gesellschaft

Der moderne Mensch und seine Zukunft:

Dieses Buch Erich Fromms ist ein ehrgeiziges Unterfangen: Es will die seelische und geistige Erkrankung der gegenwärtigen Gesellschaftstruktur auf den Begriff bringen. Fromm ist sich wohl bewußt, daß es schwierig ist, von einer „Menschheitsneurose“ zu sprechen. Beim einzelnen Neurotiker hat man als Kontrast die Gruppe der angeblich normalen Menschen, die unauffällig funktionieren und keine manifesten Symptome aufweisen. Woher aber soll man den Hintergrund nehmen, auf dem sich die Gesellschaftpathologie abhebt? Schon Sigmund Freud sah dieses Problem in „Das Unbehagen in der Kultur“

Fromm verweist auf die hohe Zahl der Morde, Selbstmorde und Alkoholiker in den Kulturländern, um daraus die Schlußfolgerung abzuleiten, daß es um die sogenannte „Normalität des Kulturmenschen“ schlecht bestellt sei. Wo aber Millionen Menschen an seelischen Ausfallserscheinungen leiden, ist es vielleicht besser, von „Defekt“ anstatt Neurose zu sprechen. Wir stehen offenbar vor der Tatsache, daß der Zivilisationsprozeß den Menschen nicht zur seelisch-geistigen Reife führt, sondern aus ihm nur eine Karikatur dessen macht, was er von seinem Wesen her sein könnte.

Fromm hat einen expliziten Begriff von der „menschlichen Situation“ oder „menschlichen Natur“, der für ihn einen Schlüssel zur von ihm vertretenen humanistischen Psychoanalyse bedeutet. Dieser geht aus von der Dichotomie menschlicher Möglichkeiten: so stehe der Mensch vor der Wahl zwischen „Verbundenheit versus Narzißmus“, Schöpferischer Kraft versus Zerstörungstendenz“, Brüderlichkeit versus seelischer Inzest“ und „Individualität versus Herdengleichheit.“ Diese Alternativen sind immer mit dem Menschsein gegeben; die bisherige Kultur entwickelte im Menschen überwiegend narzißtische, zerstörerische, inzestuöse und Herden-Tendenzen, so die große Majorität aller Kulturmenschen sich nur zu einem kümmerlichen Grad von Reife entfalten konnte. Das erkennt man auch daran, daß sehr selten die Vernunft zu ihrer vollen Funktionstauglichkeit entwickelt wird. Der Mensch braucht nach Fromm ein übergreifendes „System der Orientierung und der Hingabe“, aber dieses erscheint zumeist in Gestalt von irrationalen Lebens- und Weltbildern, die das geistige Wachstum blockieren. [102, 117, 118, 119]
Literatur:

102

Rattner, Josef

Klassiker der Tiefenpsychologie

Psychologie Verlags Union München

1990

117

Fromm, Erich

Die Furcht vor der Freiheit

EVA Frankfurt / EBG

1996

118

Fromm, Erich

Wege aus einer kranken Gesellschaft- Eine sozialpsychologische Untersuchung

dtv Verl. München

1980 / 1991

119

Fromm, Erich

Der moderne Mensch und seine Zukunft

EVA Frankfurt

1955 / 1960